Kurz und Kurios: Die Selmer Straße »Dahler Holz«

Published by André Walter on

Es gibt in Selm eine Straße ohne Hausnummern. Eine Straße, die Sie mit dem Auto nur über die Nachbarstädte Olfen oder Datteln anfahren können. Und am tiefsten Punkt von Selm liegt sie auch noch, dieser einsame Vorposten des Kreises Unna, denn nichts im Kreis liegt westlicher als eben jene Straße mit Namen »Dahler Holz«! Doch damit nicht genug der Kuriositäten…

Wo geht es nach »Walltrop?«

Mein Leser Karl Glowsky aus Castrop-Rauxel brachte mich auf das Thema. Denn Karl war zunächst etwas aufgefallen, was mir – und vermutlich den allermeisten Autofahrern – bislang nicht aufgefallen war: ein fehlerhaftes Straßenschild:

»Walltroper Straße« (sic) steht auf diesem Schild an der K2. Da hat sich lustigerweise ein L zuviel eingeschlichen, gemeint ist natürlich Waltrop. Normalerweise führen Straßen auch in den Ort, der drauf steht: Die Olfener Straße nach Olfen, die Lünener Straßen nach Lünen. Manchmal sind es auch Bauwerke, wie Karl mir in einer E-Mail so schön beschrieb: »Etwa wie das Brandenburger Tor mich in Richtung Brandenburg-Stadt führt, wenn ich Berlin »Unter den Linden«, verlasse.«

Und eben jene Waltroper Straße führt (indirekt) nach Waltrop wenn man Vinnum Richtung Süden verlässt. Denn zunächst überquert man nach einer scharfen Linkskurve die Stadtgrenze zu Selm. Die Straße trägt fortan den Namen »Dahler Holz«, benannt nach dem Wald, der nördlich an sie grenzt. Anschließend, auf der Lippebrücke, gelangt man auf Dattelner Stadtgebiet. Und erst von da geht es weiter nach Waltrop (über die Markfelder Straße, die dann -auf Waltroper Gebiet- zu Unterlipper Straße wird). Aus historischer Sicht (und mit anderen Grenzen) mag es tatsächlich mal der Weg direkt nach Waltrop gewesen sein, heute ist es aber doch »komplizierter«.

Wir haben somit eine Straße, die nach Selm führt, aber im Grunde nur wieder hinaus. Hier stehen keine Häuser, keine Gebäude, es gibt keine Hausnummern. Ein paar Waldwege, Trampelpfade, führen von ihr ab, doch mit dem Auto gibt es nur eine Möglichkeit: wieder raus aus Selm.

Ganz praktisch schaut dass dann so aus. Entgegen obiger Beschreibung jetzt andersherum, von Datteln nach Vinnum: nach dem Queren der Brücke (Kreisgrenze) grüßt der Kreis Unna vom Schild… doch schon 800 Meter später heißt es: Willkommen im Kreis Coesfeld.

Eine Straße, viele Namen, viele Städte und Kreise…

Zusammengefasst ist das doch sehr spannend: die gesamte Straße hat (gezählt vom Ortsausgang Vinnum bis zur Kreuzung Markfelder Straße) auf zwei Kilometern Länge nicht nur drei Straßennamen. Sie durchquert auch drei Städte (Olfen, Selm, Datteln), wobei Waltrop schon in Sichtweite ist, und sie verbindet die drei Kreise Coesfeld, Unna, Recklinghausen.

Zudem ist hier auch die offizielle Grenze des Ruhrgebiets (Selm, Waltrop und Datteln) zum Münsterland (Olfen), sowie zwischen den beiden Regierungsbezirken Münster (Olfen, Datteln, Waltrop ) und Arnsberg (Selm):

Im Grunde hätte die Waltroper Straße auch auf dem Selmer Stück auch so heißen können, denn nach Waltrop führt sie ja ebenfalls. Allerdings gibt es im Ortsteil Bork schon eine Waltroper Straße, weshalb sie wohl den Namen Dahler Holz bekam. Bei der Alternative Vinnumer Straße dasselbe: auch hier gibt es schon einer Borker »Vinnumer Straße«.

K2 bleibt K2 bleibt K2….

Genau so spannend ist, dass die Straße – obwohl sie ja drei unterschiedliche Kreise durchläuft – in allen drei Kreisen als K2, also als “Kreisstraße 2” benannt wird. Üblicherweise numeriert jeder Kreis seine Straßen von 1 bis X selber. Das die Numerierung über die Kreisgrenzen hinaus identisch bleibt, ist wirklich selten.

Und um es noch zu toppen: die K2, wenn sie Selm nach Vinnum verlässt, führt später wieder nach Selm, wo sie als K2 dann auch weiter geht (Römerstraße). Bedeutet: die K2 führt durch den Kreis Unna, aber nicht zusammenhängend (weil Vinnum dazwischen liegt).

Fotos: Karl Glowsky

Tiefer und westlicher geht es in Selm nicht.

Hier unten am Ufer der Lippe, also an der Stadt- und Kreisgrenze, ist auch der tiefste Punkt von Selm. 44 Meter über dem Meeresspiegel liegt er.

Gleichzeitig ist das Dahler Holz auch der westlichste Punkt der Stadt Selm als auch des Kreises Unna.

Ein Witz am (Straßen)rande…

Weniger kurios, aber doch ziemlich skurril sind die zwei Schilder des Kreises Unna und des Kreises Recklinghausen auf unserer besagten Straße. Sie zeugen davon, dass man jetzt von einem sehr Fahrradfreundlichen Kreis in den anderen fahre.

Hört Hört!

Der Witz daran: die Schilder stehen zwar an jeder Straße, über man in die Kreise hineinfährt, doch hier wirken sie absurd deplaziert! Ich meine, das ist kein Vorwurf an die Straßenmeisterei oder die Stadtwerke oder wer auch immer sie da aufstellen musste. Nur hier….ach sehen Sie selbst:

Absolut Fahrradfreundlich, oder? 🙂

Sie haben es gemerkt, das war Ironie! Eine kurvige, relativ schmale Straße, auf der 50 oder 70 km/h erlaubt sind – ohne Radweg daneben. Da macht das Fahren für die auf dem Rad, als auch die im Auto dahinter, so richtig Spaß! Zudem eine schmale Brücke an der absolut nichts Fahrradfreundlich ist. Und um noch einen draufzusetzen: die Straße ist auch noch ein offizieller Teil des Radverkehrsnetzes NRW. Puh… . Wenigstens hat der Kreis Coesfeld so ein Schild, netterweise, gar nicht erst aufgestellt.

Immerhin: mit dem Neubau der Brücke 2023/2024 soll auch endlich ein ordentlicher Radweg kommen.

So heißt es etwa im Planfeststellungbeschluss zum Neubau der Brücke:

Mangelnde Standfestigkeit machen diesen Neubau erforderlich. Zudem sind Anpassungen der K2 geplant (Querschnittsverbreiterung und Entschärfung eines Kurvenverlaufs). Darüber hinaus soll der Neubau eines Radweges zwischen der K12 (Markfelder Straße) und der Kreisgrenze Unna / Coesfeld realisiert werden.

Bezirksregierung Arnsberg: Planfeststellungsbeschluss zum Ersatzneubau der Lippebrücke (Selm/Datteln) wird ausgelegt

Warum gibt es Straße und Brücke genau dort?

Offen bleibt mir die Frage, warum die Straße überhaupt so kurz über Selmer Stadtgebiet verläuft. Warum auch die Lippebrücke genau dort steht, wo sie heute ist. Berücksichtigen muss ich dabei selbstredend die alten Grenzverläufe, nicht die heutigen. Denn Selm, in den Grenzen von heute, gibt es erst seit der Kommunalgebietsreform von 1975. Ich habe mir also jede Menge alten Karten angesehen. Karten vom alten Kreis Lüdinghausen, der 1975 aufgelöst wurde. Historische Karten von Selm und Waltrop, doch nichts klärt meine Frage auf, warum die Straße genau da verläuft. Karl vermutet, dass es mit dem Holztransport aus dem Waldgebiet zusammen hängen könnte.

Unstrittig ist, dass der Wald, das Dahler Holz, natürlich mit dem Haus Dahl in Verbindung steht, einer nah gelegen Wasserburg an der Lippe. Er ist also immer verknüpft mit der Geschichte des Hauses Dahl, ganz gleich, wohin (oder zu wem) das Haus Dahl letztlich in seiner langen Geschichte gehörte. Das Haus Dahl stand ursprünglich auf der anderen Seite der Lippe, südlich vom heutigen Standort, doch auch hier erscheint mir derzeit keine Verbindung zum Standort der Brücke oder der Straße zu bestehen.

Fest steht wenigstens: vor gut 100 Jahren gab es bereits eine Brücke an dem Standort, das zeigt ein Luftbild von 1926:

Auf Karten aus dem 19. Jahrhundert ist in dem Bereich jedoch weder eine Brücke, noch eine Furt oder sonstiges eingezeichnet. Beispielhaft hier die Preußische Uraufnahme von 1836-1850:

Auffällig finde ich bei der Uraufnahme Dreierlei:

  • Dort, wo die Straße heute verläuft, führte sie der Karte nach schon damals bis an die Lippe
  • Sie mündete dort aber in den Leinpfad/Treidelpfad des Flusses. Dieser verlief am Nordufer und wurde genutzt, um die Schiffe von Land flussaufwärts zu ziehen, etwa mit Pferden.
  • Ca. 950 Meter östlich der heutigen Brücke befand sich eine Fähre, mit der offensichtlich vom einen zum anderen Flußufer gewechselt werden konnte

Warum also wurde die Brücke nicht dort gebaut, wo ohnehin schon die Fähre war? Es ist ja nicht selten, dass aus solchen Flussquerungen später richtige Brücken wurden. Genau so frage ich mich, warum die Straße überhaupt diesen Knick am Wald macht und nicht einfach (von Vinnum kommend) weiter geradeaus südlich direkt die Lippe querte, ohne diesen »Waldrandschlenker«. Schließlich verlief laut Uraufnahme ja schon ein Weg genau dort bis zum Flussufer.

(Waldrandschlenker welch schöne Wortschöpfungen die deutsche Sprache doch hergibt ;). )

Fazit: Kurios und doch Rätselhaft.

Im Ergebnis ist es mir momentan rätselhaft, warum Straße und Brücke genau da verlaufen, wo sie heute sind. So bleibt für heute lediglich das Kuriositätenkabinett: eine kurze Straße mit drei Namen, die drei Städte und Kreise durchläuft; die am tiefsten Punkt von Selm liegt, und am westlichsten des Kreis Unna, aber keine Hausnummern hat. Mit einem Tippfehler-Straßenschild und einem (es kann nur ironisch gemeint sein) Schild, dass Radfahrern sagt: Willkommen, hier fährt es sich gut – auch ohne Radwege! 😀

Sachdienliche Hinweise zum Straßenverlauf und der Brücke sind immer willkommen!

Danke an Karl Glowsky für den Tipp!