St. Martin in Alstedde in den 1980er: während wir Kinder mit der Laterne gingen, hatte Oma einen Spezialauftrag an der Grundschule.

Die Trommelschläge kündigen ihn an

Ein langsam näher kommendes »bum bum« kündigte ihn an: ganz weit vorne, hinter Polizei und Feuerwehr, ritt St. Martin zu Pferde. Ob es stets ein Schimmel war, weiß ich nicht mehr, doch der Mantel der war immer rot. Aus kindlicher Sicht war es in jedem Fall ein römischer Soldat, der da voran schritt.

1984 an der Lauenburger Straße (aus einem Fotoalbum meiner Eltern)


Direkt dahinter war der Alstedder Knappenverein mit seinem Spielmannszug. Die schwarzen Uniformen mit Goldverzierung und weißer Feder am Hut, die bleiben in Erinnerung. Und der Spielmannszug machte mit all seinen Instrumenten lautstark Musik. Besonders die Trommelschläge waren eben die ersten Klänge, die aus der Ferne den herannahenden Umzug mit jenem »Bum Bum« ankündigten. Mit dabei war oft auch das Orchester der Ruhrkohle AG sowie verschiedene Vereine, etwa der Karnevalsverein »Böse Buben«.

Aus: Ruhr Nachrichten Lünen, Ausgabe vom 31.10.1998, Artikel »Jubiläumsauflage des Alstedder Martinsumzuges« zum 50. Jubiläum (Quelle Stadtarchiv Lünen, Zeitungsarchiv)

2.500 Besucher in den besten Jahren

Mit jeder Straße wurde der Umzug länger und länger. In den besten Jahren haben mehr als 2.500 Menschen mitgemacht. Mehr und mehr Laternen und Leuchten kamen dazu. Viele hatten damals noch echte Kerzen in den Papierlaternen, und manchmal brannte so eine Laterne wenn ein Kind zu sehr damit rumwedelte. Andere hatten Batteriebetriebene Leuchten, also normale Glühbirnen, denn die LED gab es damals noch nicht. Zwischendrin immer mal -meist ältere Jugendliche- mit ganz normalen Taschenlampen. Irgendwann mit Zwölf oder Dreizehn hatte ich auch mal eine Taschenlampe statt Laterne bekommen (sei ja nun alt genug), doch ich fühlte mich nicht gut damit. Unpassend vielmehr.

Wie auch immer – damals sangen Eltern und Kinder noch lautstark:

Aus: Wikipedia, aus dem Artikel zu dem Lied: https://de.wikipedia.org/wiki/Ich_geh%E2%80%99_mit_meiner_Laterne

Einmal durch den Stadtteil

Der Startpunkt des Umzuges war an der Ecke Römerweg/Landwehr. Von dort ging es insgesamt knapp zwei Kilometer durch Alstedde: die Landwehr und Lauenburger Straße bis zum Steinkreuz entlang. Vom Steinkreuz ging es den Drubbel hinunter, am Marktplatz rechts in die Heinrich-Imig-Straße. Von dort über Albert-Schweitzer-Straße, Hainweg und Waldhöhe zum Alstedder Sportplatz.

Mantelteilung auf dem Sportplatz

Dort angekommen, begab sich St. Martin in die Mitte des Sportplatzes. Alle Leute versammelten sich drumherum hinter der Bande, die Kinder natürlich vorne. Es folgte ein kurzes Schauspiel, mal im Flutlicht, mal nur mit Fackeln, und St. Martin teilte seinen roten Mantel in zwei Stücke, so wie es die bekannte Erzählung darstellt:

Ab 334 war Martin als Soldat der Reiterei der Kaiserlichen Garde in Amiens stationiert (…) An einem Tag im Winter begegnete Martin am Stadttor von Amiens einem armen, unbekleideten Mann. Außer seinen Waffen und seinem Militärmantel trug Martin nichts bei sich. In einer barmherzigen Tat teilte er seinen Mantel mit dem Schwert und gab eine Hälfte dem Armen.

In der folgenden Nacht sei ihm dann im Traum Christus erschienen, bekleidet mit dem halben Mantel, den Martin dem Bettler gegeben hatte. Im Sinne von Mt 25,35–40 EU – „Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet … Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ – erweist sich Martin hier als Jünger Jesu.

Aus dem Wikipediaartikel über Martin von Tours https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Martin_von_Tours&oldid=216439144

Oma steht an der Grundschule Schlange

Während wir Kinder St. Martin folgten, reihte sich Oma jedes Jahr in eine lange Schlange ein. Sie hatte sozusagen einen »süßen Sonderauftrag«! An der Alstedder Heikenberg-Grundschule gab der Heimatverein jedes Jahr »Martinstüten« aus. Zumindest bis 1998, danach wurde die Grundschule abgerissen und die Ausgabe verlagerte sich ins das Vereinsheim vom SV Blau-Weiß Alstedde.

Diese Tüte war zunächst ein großer, durchsichtiger Plastikbeutel. Darin waren ein Martinsbrezel, ein Stutenkerl (Weckmann) mit Porzellanpfeife und verschiedenste Süßigkeiten: an eine kleine Tüte Popcorn kann ich mich erinnern; an Puffreis, Bonbons, Traubenzucker, an Brause und diese essbaren Ketten und »Uhrenarmbänder«. Das Popcorn war von der Firma Bussy, wurde also direkt in der Nachbarstadt Bergkamen hergestellt. Es war ein prall gefüllter Beutel für fünf, später sechs Deutsche Mark. Oma hatte immer beide Hände voll mit Tüten für all die vielen Enkelkinder, oft ging auch einer meiner Tanten mit, weil es einfach zu viele Tüten wurden.


Ganz oft waren die Süßigkeiten völlig verklebt vom Hagelzucker des Martinsbrezels, denn der lag immer einfach so in der Tüte. Ach, war das eine Sauerei, die klebrigen Kinderfinger im Wohnzimmer der Großeltern…

…Rund 55.000 Tüten wurden von den Helferinnen und Helfern des Heimatvereins in den letzten 50 Jahren gepackt und ausgegeben.

Karten für die diesjährigen Tüten gibt es noch bis Montag (2. November) an folgenden Verkaufsstellen: Kiosk Vogelscher, Gaststätte Hansakrug, Marinas Blumenlädchen, Lotto- und Postagentur Dopp und an der Kirchenbude

Aus: Ruhr Nachrichten Lünen, Ausgabe vom 31.10.1998, Artikel »Jubiläumsauflage des Alstedder Martinsumzuges« zum 50. Jubiläum.

Viele dieser Verkaufssstellen gibt es schon gar nicht mehr. »Kirchenbude« klingt für eine Zeitung doch sehr umgangssprachlich, doch jeder nannte den Kiosk gegenüber der katholischen Kirche eben die Kirchenbude. Direkt daneben war viele, viele Jahre lang auch der Schnellimbiss von Frau Lau: Halbe Hähnchen, Frikadellen und Pommes. Ich denke, alle älteren Alstedder werden sich erinnern….

Erster Martinsumzug 1949

Alstedde hatte einen der ersten Umzüge hier in der Region. Dies war dem ehemaligen Schuldirekt Aloys-Siegeroth zu verdanken, der Martinsumzüge im Rheinland kannte. Die Ruhr Nachrichten berichteten dazu:

Ruhr Nachrichten Lünen vom 10.11.1988 (Quelle: Stadtarchiv Lünen, Zeitungsarchiv)


Es waren andere Zeiten

Das ein ganzer Stadtteil einen einzigen Umzug organisiert und ganz viele mitmachen, war immer etwas besonderes. So kamen auch viele Menschen aus den Nachbarorten dazu.

Heutzutage ist alles viel kleinteiliger geworden: da macht manchmal jede Kita, jede Schule und manch Verein oder Siedlergemeinschaft einen eigenen, kleinen Umzug um den Block mit den selbst gebastelten oder gekauften Leuchten. Gesungen wird weniger und die Sicherheitsauflagen sind gestiegen, sodass ein Umzug viel Schweiß, Mühe und Kosten in der Organisation mitbringt und viel mehr Helferinnen und Helfer benötigt, als damals, in den 1980er Jahren. Selbst ein St. Martin-Schauspieler ist gelegentlich gar nicht mehr dabei (noch seltener auf einem Pferd) und häufiger ist es nur noch ein schlichter Laternenumzug.

In wie weit die eigentliche Botschaft der Martingsgeschichte dabei noch transportiert wird, nämlich sein Herz für fremde Not zu öffnen und sich ihrer mildtätig anzunehmen (für mich ganz frei jeglicher religiösen Einstellung), vermag ich nicht zu beurteilen.

In Erinnerung bleiben mir so vor allem: die verklebten Finger vom Martinsbrezel. Und unsere Oma, die für ihre Enkelkinder jedes Jahr in einer langen Schlange vor der Grundschule anstand. Danke, Oma!